Migration findet Stadt. Gegen die Hysterie – für eine andere Planung.

Was wir am derzeitigen Notstandsurbanismus kritisieren und warum wir einen Volksentscheid gegen Großunterkünfte für Flüchtlinge für falsch halten.

1. Direkte Demokratie, in der die Hauptbetroffenen nichts zu sagen haben? Geht gar nicht.

Asylbewerberinnen und -bewerber sind nicht wahlberechtigt und können bei einem Volksentscheid nicht mitmachen. Die Anwohnerinnen und Anwohner, die sich in den „Initiativen für Integration“ organisiert haben, können daher noch so oft beteuern, sie handelten „im Interesse der Flüchtlinge und der Anwohner", wenn sie gegen den Bau von Großsiedlungen vorgehen. De facto bleiben bei Volksentscheiden, Klagen und juristischen Einwänden die Geflüchteten ausgesperrt.

2. Die Not der Geflüchteten duldet keinen Aufschub

Die elende Situation in den Containern, Lagerhallen, Ex-Baumärkten und anderen Massenunterkünften muss so schnell wie möglich behoben werden. Bei aller Kritik an der neoliberalen Agenda, die bundesweit die Stadtentwicklungspolitik dominiert: Es ist eine richtige Entscheidung, dass der Hamburger Senat schnell agiert. Hamburg braucht bis 2016 rund 79.000 Plätze. Und das ist nur die offizielle Zahl. Die Not in den Lagern muss durch Umbau von Bestand und durch Neubau behoben werden. So schnell, so viel, so zentral, so hoch wie eben nötig und möglich.

3. Die Gegenvorschläge sind keine Alternative

Um das zu erreichen, kann es auch angemessen sein, Wohnungen per Polizeirecht durchzusetzen. Dass es viele gute Gründe gibt, skeptisch gegenüber den neuen Wohnsiedlungen zu sein, ist unbenommen. Sie liegen zumeist am Stadtrand, sind architektonisch oft eher einfallslos, man hat bisher zu wenig Anstrengungen unternommen, um die Communities vor Ort zu involvieren – schon gar nicht die Refugees, die hier wohnen sollen. Trotzem: Auf die realen Herausforderungen haben die klagenden Anwohnerinnen und Anwohner und die in der IFI organisierten Inis keine Antworten. Ihre Gegenvorschläge – etwa ein „Viertelmix“ im Geschosswohnungsbau (25% Wohnungen für Geflüchtete) oder die „Angebote der Grundeigentümer“, die die Stadt angeblich ausschlägt, sind bestenfalls eine Ergänzung zu den notwendigen Baumaßnahmen. Sprich: Auf dieser Basis ist ein Volksentscheid nichts anderes als eine lokale Obergrenzen-Diskussion.

4. Ein Referendum wird keine einzige Unterkunft verhindern – aber stattdessen die deutsche Notstandshysterie anheizen

Optimistisch geschätzt kann ein Volksentscheid gegen Großunterkünfte frühestens im kommenden Frühjahr abgestimmt werden, womöglich erst zur Bundestagswahl im Herbst 2017. Dann werden – hoffentlich – längst Menschen in die neuen Unterkünfte eingezogen sein, zumindest aber werden sie baurechtlich nicht mehr anfechtbar sein. Sprich: Die Kampagne zum Volksentscheid wird die geplanten Wohnanlagen nicht verhindern können und stattdessen bloß eine Menge Stimmung gegen sie machen.

5. Kampagnen gegen Refugee-Unterkünfte ziehen Rechtspopulisten und Rassisten an.

Die Initiativen gegen die Großsiedlungen betonen immer wieder, sie hätten nichts gegen Geflüchtete und setzten sich vielmehr für „integrationspolitisch sinnvolle und nachhaltige Maßnahmen zur Flüchtlingsunterbringung“ ein. Mit der AfD wolle man nicht reden. Das mag alles so sein – und wir halten es auch für unangebracht, die Initiativen a priori als rassistisch oder rechtsradikal zu stigmatisieren. Dennoch erleben wir in all den Stadtteilen, in denen die neue Bürgerbewegung sich organisiert, wie Leute rassistische Ressentiments in die Anhörungen und Versammlungen hineintragen und damit das Klima beeinflussen. Und alle Abgrenzungsrethorik wird nicht verhindern, dass sich AfD und Nazis im Umfeld der Proteste tummeln.

6. Die Rede von Ghettos ist leichtfertig und hysterisch

Es gibt seit Jahren in Hamburg einen massiven Verdichtungsprozess, dem Hinterhöfe und Naturflächen zum Opfer fallen. Solange es um mittelständisches und höherpreisiges Wohnen ging, hat sich dagegen aus den Stadtteilen kaum bis gar kein Protest geregt. Jetzt, wo Großsiedlungen für Geflüchtete gebaut werden müssen, gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Barrikaden – mit dem Argument, dort drohten „Parallelgesellschaften“ zu entstehen. Egal, ob in Wohlstandsenklaven wie Klein Borstel, Ottensen oder Eppendorf Wohnungen für 600 und 700 Geflüchtete gebaut werden sollen oder ob in einer weniger gutsituierten Gegend wie Neugraben-Fischbek 4000 Menschen leben sollen: Immer sprechen die Protest-Inis von „Ghettos“ und fordern eine gleichmäßigere Verteilung der Unterkünfte auf alle Stadtteile. Wir befürchten: Egal wo die Stadt Unterkünfte bauen will – immer werden sie auf Anwohnerinnen und Anwohner treffen, die das für unzumutbar halten. Wir plädieren an dieser Stelle für weniger Hysterie. Ein paar hundert oder tausend Menschen macht noch kein Ghetto. Wer es dennoch so sehen will, diffamiert ganze Communities. Und grenzt sie mit genau den Argumenten aus, mit denen die wohlsituierten Bewohner der urbanen Zentren ihre Exklusivität nach Kräften (und mit Hilfe von Rechtsanwälten) verteidigen. Denn dass sich die Neuankömmlinge der Metropolen in Ankunftsstadtteilen an den Rändern ballen, hat seit jeher damit zu tun, wem die Stadt gehört und wie man mit ihr Geld verdient.

7. Weder Bürgerpanik noch Notstandsplanung: Wir brauchen einen anderen Urbanismus.

Dass Politiker, Planer und Architekten jahrzehntelang keine Konzepte für bezahlbares, gutes und nachhaltiges Bauen gemacht haben, dass sozialer Wohnungbau in Deutschland im wesentlichen ein Investoren-Förderprogramm ist (kein anderes europäisches Land macht das so): All das rächt sich nun. Es muss eine Alternative her. Zu einer urbanen Strategie, die in der jetzigen Lage greift, gehört eine neue Haltung. Weg von Ghetto-Panik, hin zu den Möglichkeiten und Chancen für die neuen Nachbarschaften. Nähstuben für Refugees und einheimische Anwohnerinnen und Anwohner, selbstgegründete Kioske, Läden mit arabischen Spezialitäten, Nachbarschafts-Cafés, Start-Ups, lokalen Kleiderkammern oder Werkstätten: Auch in den jetzt schnell hochgezogenen Projekten müssen Erdgeschosse für solche Nutzungen freigehalten werden. Wir brauchen Flexibilität, um informelle Strukturen zuzulassen, damit lebendige Stadtteile entstehen können, die den Communities und ihren Nachbarinnen und Nachbarn neben Wohnraum auch Treffpunkte, Platz für Experimente und Gründungen bietet.

8. Keine Beteiligung ist auch keine Lösung

Der Notstandsurbanismus lässt die Städte oft ungeschickt agieren. Diese Erfahrung haben auch viele Ehrenamtliche gemacht, die im Sommer 2015 selbstorganisiert das Schlimmste auffingen – am Lageso in Berlin genauso wie in der ZEA Hamburg-Harburg oder in den Hallen-Notunterkünften. Menschen, die den überforderten Behörden und Trägern mit unermüdlichem Einsatz den Arsch retteten, wurden bisweilen wie lästige Bittsteller abgefertigt. Dass die Anwohnerinnen und Anwohner der zukünftigen Großsiedlungen sich über die Arroganz der Macht beschweren, hat Gründe. Ein schroffer Anti-Beteiligungskurs verschärft die Konflikte bloß und ist angesichts der Versäumnisse der Vergangenheit unangemessen. Stattdessen sollten die Projekte unter Teilhabe der selbstorganisierten Hilfsnetzwerke und der Anwohnerinnen und Anwohnerinnen entwickelt werden. Und selbstverständlich müssen auch die Refugees in die Entwicklung einbezogen werden, statt sie als passive Hilfeempfänger zur Unmündigkeit zu degradieren. Es braucht engagierte Planungsverfahren, mit Beteiligung von Künstlerinnen und Künstlern, urbanen Designern, den Studierenden der HCU und HfbK. Projekte wie das Grandhotel Cosmopolis Augsburg, Haus der Statistik Berlin oder Neue Nachbarschaft Moabit sind Modelle, die ernst genommen und in die Überlegung einbezogen werden müssen. In Hamburg haben Projekte wie die PlanBude, die Kleiderkammer oder die Helfergruppe Hauptbahnhof neben anderen gezeigt, dass die Einbeziehung von Nachbarschaften, (Sub)-Kulturen oder Communities zu besseren Ergebnissen führen können.

9. Wir haben kein Flüchtlingsproblem, wir haben ein Wohnungsproblem

Die derzeitige Planung bleibt, was das Denken über Stadt, Raum, sozialen Raum betrifft, weit hinter den technischen und materiellen Möglichkeiten, hinter dem gesellschaftlichen Reichtum zurück. Die Hamburger Olympia-Bewerbung hat die Visionslosigkeit der Stadt mit der Hoffnung auf ein Megaevent überpinselt, aber die Leere nicht gefüllt. Über Jahrzehnte hat die Politik den Wohnungsnotstand in den Großstädten ignoriert, ja gefördert. Bis tief in die Mittelschichten hinein wird es immer schwieriger, angemessenen Wohnraum zu finden. Das Marktversagen ist seit langem offensichtlich, und die Wohnungskrise betrifft besonders die Armen. Für die hierher Geflüchteten und Papierlosen ist die Situation dramatisch, oft unerträglich und elend. Das derzeitige Programm bringt noch keine Wende in der Wohnungspolitik. Mit dem 20 Milliarden-Programm der Bundesregierung wird wieder Steuergeld in die Immobilienbranche gepumpt - und verschleudert. Stattdessen muss diese Investition Wohnraum schaffen, der auf Dauer niedrige Mieten sichert. Aus dem Wohnungsbau für Geflüchtete muss schnell ein Wohnbauprogramm für alle mit wenig Geld werden, es muss gemeinnützige Genossenschaften, Stiftungsmodelle, alternative Investoren wie das Mietshäusersyndikat ins Boot holen und neue Konzepte für öffentliches Eigentum entwickeln. Pragmatismus bei der Schaffung von Wohnraum ist gut. Dazu gehört neben den Schnell- und Neubauten aber auch ein pragmatischer Umgang mit dem Bestand. Der Abriss des City-Hofes ist derzeit nicht vorrangig, stattdessen könnte man das Axel Springer Haus zu einer zentral gelegenen Unterkunft machen – ebenso wie etwa die leerstehende Postpyramide in der City Nord. Wir brauchen eine mutige, entschlossene Politik bei der Frage, wie man unkonventionell und schnell Bestandsbauten umwandelt und nutzt.

10. Geflüchtete haben ein Recht auf Stadt

Ein Volksentscheid gegen Großunterkünfte ist keine Lösung. Wir meinen: Lasst das sen! Hamburg braucht weder lokale Seehofers im Integrationsgewand, noch im Windschatten segelnde Rechtsradikale. Distanziert euch! Der Volksentscheid befördert die falsche Debatte – nämlich eine, die Geflüchtete nur als Belastung taxiert. Was wir stattdessen brauchen, sind Bauvorhaben, die mehr sind als nur Schlafstädte für Geflüchtete, die einen Mehrwert für die Viertel bieten, Raum für informelle Aneignung durch die Nachbarschaft schaffen, die Kontaktflächen und Plattformen des Austauschs haben. Lasst uns gemeinsam innovative Lösungen entwickeln, mit Pragmatismus und mutigen Visionen für ein dauerhaft sozial abgesichertes Wohnen in einer Stadt, die sich ändern muss und wird. Ein Großteil der Refugees wird bleiben und Teil unserer Stadt werden. Sie haben ein Recht auf Stadt. Treiben wir die Politik zu einer Planung, die unseren neuen Nachbarinnen und Nachbarn Räume, Teilhabe und Entwicklung ermöglicht, und bieten wir dem brutalisierten Selbstmitleid des AfD-Milieus die Stirn.

Wir schaffen das? Nein, wir wollen das. Und wir wollen eine Stadt, die das will.

Plenum des Netzwerks Recht auf Stadt, 9. Februar 2016

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